Hinter den Kulissen: Glück in Venezuela?

Ich war 2 Wochen in Venezuela. Zum ersten Mal in meinem Leben. 

Hier sind meine Eindrücke.

Warum eigentlich Venezuela?

Bis vor einem Jahr wäre das einzige, was ich über Venezuela hätte sagen können, dass es irgendwo in Südamerika liegt.

Doch dann lernte ich Vanessa kenne, die seit Februar 2022 meine Frau ist :-)

Mit Vanessa am Strand von Tucacas

Vanessa stammt aus Venezuela. Ihre Eltern und der Großteil ihrer Familie leben dort. 

Vanessa hat wegen der politischen und gesellschaftlichen Lage schon vor einigen Jahren das Land verlassen. Sie ist jetzt gerade in Venezuela, da sie ein Visum beantragt hat, um mit mir in Deutschland leben zu können.

Jetzt, im Juni 2022, war es endlich an der Zeit, dass ich ihr Land, ihre Familie, ihre Kultur kennenlerne.

Alles nur theoretisch

Natürlich habe ich vor meinem Besuch einiges über Venezuela gehört:

Die größten Ölreserven der Welt.
Hohe Armut.
Hohe Kriminalität.
Hohe Korruption.
Unfähige Regierung.
Chávez und Maduro.
Sozialismus.
Katholizismus.
Hitze.
Die leckersten Mangos und Avocados.

So ganz hat das zwar in meinem Kopf nicht zusammengepasst, aber zumindest dachte ich, dass ich einigermaßen verstanden hätte, wie es in Venezuela zu geht.

Die ersten Schritte

Mit Hilfe von Vanessas Vater bin ich heil durch die Inmigración am Flughafen von Caracas, der Hauptstadt, gekommen. Und mein Koffer wurde nicht geplündert. (Vanessas Sorgen sind nicht wahr geworden - yeah!)

Ich gehe meine ersten Schritte außerhalb des Flughafens. Grimmige Polizisten und Soldaten schauen die Reisenden dumpf und misstrauisch an.

Und ich bekomme meine ersten Vorgeschmack der venezolanischen Hitze: puh! Vanessa und ihre beste Freundin lachen. Wir haben 5 Stunden Autofahrt vor uns. In Acarigua, unserem Ziel, wird es nochmal 10 Grad heißer sein. Ich jammere jetzt schon.

Staunen

Eigentlich bin ich fix und fertig. Nach etwa 24 Stunden Reise würde ich am liebsten in ein weiches, kühles Bett kollabieren.

Stattdessen 5 Stunden Autofahrt. Na gut!

Aber 5 Stunden mit dem Auto fahren ist nicht das gleiche, wie hier in Deutschland.

Die Autopista (Autobahn) ist eine von Schlaglöchern zersetzte Slalom Tour. Überholt wird links - und rechts - oder auf beiden Seiten gleichzeitig. Und auf dem Standstreifen wird auch gefahren. Was sonst? Es sei denn, dort ist eines von vielen Autos liegen geblieben. 

Vom TÜV hat hier noch niemand gehört. Wenn dein Vehikel sich noch irgendwie bewegt, dann reicht das schon. Zehn Menschen hinter auf dem Pickup, ohne jegliche Sicherung, bei 100 km/h … kein Thema!

Der wahrscheinlich harmloseste Anblick!

Und überall kleine Motorräder. Dass nur die wenigsten einen Helm tragen, dürfte an dieser Stelle schon klar sein. Nierenschoner? Wer braucht schon sowas!?

Ich komm aus dem Glotzen kaum noch raus. Alles ist anders. Alles ist irgendwie abgefucked. Bis auf ein paar ganz wenige, teure Sportwagen, fällt gefühlt alles fast auseinander.

Die Geschichte von Venezuela: Teil 1 - Hoch hinaus und tief hinab

Alles, was ich jetzt berichte, ist mein aktueller Wissensstand. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder absolute Wahrheit.

Venezuela ist ein junges Land und erst seit gut 200 Jahren unabhängig von Spanien.

Gegen 1810 hat Simón Bolívar das Land von der Herrschaft Spaniens befreit. Und dann noch zwei mal in den folgenden Jahren, weil die Bildung einer neuen, stabilen Regierung verdammt schwierig war.

Zeitsprung: 1958 wurde die bisherige Regierung gestürzt und durch ein neues, wackeliges System ersetzt. Nun begannen langsam die “goldenen Jahre” von Venezuela. Endlich konnte das ganze Volk von den riesigen Ölreserven profitieren. Schnell wurde das Land zum reichsten in ganz Südamerika. Der Lebensstandard in den 1970er Jahre war auf einem ähnlichen Niveau, wie in den USA!

All good things must come to an end: mit dem ersten großen Zusammenbruch der Ölpreise in den 80ern hat Venezuela seinen ersten Schlag in die Magengrube erhalten. Armut brach aus.

Warum? So wie ich es verstehe, hat es Venezuela versäumt andere Industrien anzukurbeln und hat sich (viel) zu sehr auf den Profit des Ölhandels verlassen.

Die Lösung? Geld leihen! Vom IMF (International Monetary Fund). Natürlich hat das Konsequenzen: eine Auflage des IMFs war es damals, dass die Regierung die Sozialleistungen massiv kürzen musste. Dadurch ging es den Menschen, die wenig hatten, noch etwas schlechter.

Kurz gesagt: dem Land ging es wahnsinnig gut … und dann wahnsinnig schlecht. Innerhalb von 30 Jahren.

1992, nach einem gescheiterten Coup verschiedener militärischer Gruppen, betritt ein Mann die Bühne der öffentlichen Wahrnehmung: Hugo Chávez.

Chávez wird die bedeutendste Figur des modernen Venezuelas. Aber dazu später mehr.


Venezuelas Kontraste

Heruntergekommene Fabriken neben Werbung für Smartphones.

Warmherzige, lebensfrohe Menschen neben bedrohlichen Straßensperren der Polizei.

Unzählige kleine, wackelige Straßenstände neben Supermärkten mit 60 Mitarbeitern.

Das Essen ist immer sehr lecker … und fast immer schwer und fett!

Passend dazu bewegen wir uns ständig zwischen zwei sehr fundamentalen Kontrasten: Wärme und Kälte. 

Draußen ist es immer warm, auch nachts. Trotz der Regensaison bewegen wir uns tagsüber immer jenseits der 30° Celsius. Gerne auch mal Richtung 35 - und schwül!

Drinnen ist es immer kühl. Die Klimaanlagen laufen fast überall auf voller Kraft. Ich habe das Gefühl mich permanent von einem Kühlschrank in den Backofen (und umgekehrt) zu bewegen. Fast wie selbstverständlich entsteht in meinem Körper schon am 3. Tag eine ordentliche Erkältung. Naja, so sei es!

Warum seid ihr nicht unglücklich?

Die eindrücklichste Empfindung für mich ist, dass die Menschen hier glücklicher, zufriedener sind als in Deutschland. Auch während ich diesen Text schreibe und darüber reflektiere, bäumt sich ein Teil meines Verstandes immer noch dagegen auf; er will es einfach nicht wahrhaben! 

Die Natur ist immer und überall wunderschön!

In einer trockenen Gleichung ist unser Leben in Deutschland in nahezu allen Belangen besser. Wir haben mehr Geld. Es ist sicherer. Der Wohlstand ist besser verteilt (man glaube es kaum). Die Auffangnetze für die armen Teile der Gesellschaft sind viel enger. Die Wirtschaft ist stärker. Die Aussichten für junge Menschen ist heller. Und so weiter, und so fort.

Und doch (oder vielleicht gerade deswegen) haben wir Deutschen immer etwas auszusetzen. Irgendetwas kann immer besser sein. Irgendwas nervt uns immer. Irgendwie sind wir einfach nicht im Frieden mit uns.

(Ob dieses Phänomen exklusiv für uns Deutsche gilt bleibt mal dahin gestellt.)

Vielleicht wohnt vielen Venezolanern auch ein Gleichmut inne, der sich nur nach vielen Jahren Krise, Armut und politischer Willkür einstellt.

Welche Pläne können scheitern, welche Erwartungen enttäuscht werden, welche Hoffnungen zerbrechen, wenn deine ganze Umwelt seit Jahrzehnten unsicher ist?

Die Geschichte von Venezuela: Teil 2 - Eine charismatische Diktatur

An dieser Stelle nochmal mein ausdrücklicher Hinweis auf mein eingeschränktes Verständnis der Gesamtsituation. Besonders die Zeit, seit Hugo Chávez an die Macht gelangte, ist extrem polarisiert. Ich habe hier fast ausschließlich schwarz/weiß Meinungen gehört und gefunden. Chávez ist für Venezolaner entweder der Teufel oder der Messiahs. Graustufen gibt es wenige.

Hier zwei sehr gute Videos zur Geschichte und Wirtschaft von Venezuela:

Ich würde Hugo Chávez als Soldaten und Populisten bezeichnen. Der gescheiterte Coup 1992 war für ihn versteckter Segen. Unter anderem durch ein kurzes Fernsehinterview gewann er an großer Bekanntheit und Beliebtheit.

Innerhalb der kommende 6 Jahre wuchs diese Beliebtheit so weit, dass er 1998 nicht mehr durch einen Coup die Regierung stürzen musste, sondern durch offizielle Wahlen an die Macht gelangen konnte. 

Eine der ersten Taten von Chávez war es soziale Programme einzuführen, die vor allem dem armen Teil der Gesellschaft zu Gute kam. Nahrung, Medizin, Unterkünfte, Bildung. Für viele Wähler hielt Chávez seine Versprechen und blieb trotz starker Gegenwehr der Opposition der Führer des Landes.

Klingt doch eigentlich alles super, oder? Reiches Land kracht zusammen, charismatischer Leader baut es wieder auf. Hier wird es dann wirklich kompliziert.

Chávez war sehr beliebt, ja.

Durch Chávez ging es vielen Menschen besser, ja.

Aber dennoch liegt ein großer Schatten über der Geschichte.

Einige Faktoren des Schattens:

  • Die Politik von Venezuela wird zu einer unausbalancierten One-Man-Show; die Macht sammelt sich mehr und mehr bei Chávez

  • Die Finanzierung der scheinbar positiven Maßnahmen beruht, wieder, vor allem auf den Ölreserven

  • Die Wirtschaft liegt, im Großen und Ganzen, weiterhin brach bzw. wird nicht effizient ausgebaut und ausgedehnt

  • Durch die Einführung eines “neuen Sozialismus” wird Eigentum gewaltsam an die Regierung übertragen; Unternehmen werden durch unfähige Leitung in den Ruin gewirtschaftet

Chávez wird später an Krebs erkranken. Er glaubt zwar, dass er es überleben wird, jedoch bittet er das venezolanische Volk in einem Fernsehauftritt, im Falle seines Todes Nicolás Maduro als seinen Nachfolger zu erwählen.

2013 stirbt Chávez und Maduro wird tatsächlich der neue Führer des Landes.

Glaube und Ungeziefer

Meine Zeit in Venezuela fliegt dahin, obwohl ich (zum Teil durch meine Erkältung) gar nicht besonders viel tue oder sehe.

Für die zwei Wochen meines Aufenthalts leben wir im Haus der verstorbenen Großeltern von meiner Frau Vanessa. Das Haus liegt in einer gefährlichen Gegend in Acarigua und ist in der Front durch 3 Türen gesichert, im Hinterhof durch 2 elektrische Tore und nochmal 2 Türen.

Im Haus selber ist die Zeit 2017 stehen geblieben. Da Vanessa’s Vater, mein Schwiegervater, das Haus nicht verkaufen möchte, existiert es weiterhin in dieser Art Zeitvakuum. Eine Art Haushälterin ist einmal die Woche da und sorgt dafür, dass alles sauber und in Ordnung bleibt.

Ich selber bin befremdet, amüsiert und berührt von unzähligen Bilder und Texten von Jesus. In meinen Augen wirken die meisten Relikte kitschig, fast “cartoonhaft”. Gleichzeitig spüre ich die Wahrhaftigkeit des Glaubens in diesem Haus. Und ahne, was Religion für ein Anker für die Großeltern gewesen sein muss, während ihr Land höchste Höhen und tiefste Tiefen erlebt hat.

Und frage mich, ob der grenzenlose Glaube an Jesus und den christlichen Gott nicht auch ein Puzzlestück für die Hoffnung ist, die es in diesem Land der Instabilität, vielleicht des reinen Überlebens wegen braucht?

Die Realität eines einfachen Hauses in einer armen Gegend lässt oft keine Zeit in Reflektionen zu schwelgen. Der Weg ins WC bedeutet für mich immer das gleiche: Augen auf, Kakerlakenspray in die Hand und einmal leicht gegen den Mülleimer treten (wer weiß, was sich darunter versteckt).

Mein anfänglicher Ekel verwandelt sich schnell in eine Jägerlust. Etwa 10 Kakerlaken fallen mir und meiner Waffe, dem Spray, zum Opfer. Und jedesmal ergreift mich eine grimmige Zufriedenheit, wenn ich “wieder eine erwischt habe”.

Das Spray stelle ich dann immer auf einer Kommode vor dem WC ab. Direkt neben vielen kleinen Jesusfiguren.

Die Geschichte von Venezuela: Teil 3 - Warum weiß keiner

Maduro, den meine Frau entweder einen Esel oder einen Busfahrer nennt, ist seit 2013 der Staatspräsident von Venezuela.

Das Bild habe ich über eine Google-Suche gefunden, bei ich nach linzenzfreien Fotos gesucht habe. Dieses Foto stammt aus diesem Artikel des Spiegels.

Busfahrer war er übrigens tatsächlich. Was allen seinen Gegner natürlich gefundenes Fressen ist. 

Laut meiner Frau hatte Chávez, auch nie ernsthaft vor Maduro als seinen Nachfolger zu erklären. Er wusste nur, dass Maduro loyal ist. Und ging davon aus, dass er den Krebs überleben würde, um sich nach seiner Rückkehr die Macht wieder einzuverleiben. Aber es kam anders: Chávez starb und Maduro wurde tatsächlich der neue Präsident von Venezuela.

Meine Frau ist übrigens ein scharfer Gegner von Chávez und Maduro. Zusammen mit großen Teilen des Volkes war sie für ihre Überzeugung auf der Straße. Gegen Chávez und Maduro. 

Meine Frage, ob sie das Land überhaupt verlassen hätte (sie hat in den USA, Panama und Spanien gelebt), wäre die politische und gesellschaftliche Situation anders, beantwortet sie mit einem klaren Nein. 

Verrückterweise hätten wir uns nie kennengelernt, wären die Lebensverhältnisse in Venezuela nicht so furchtbar, wie sie sind.

Zurück zu Maduro: kurze Zeit nach seiner Machtübernahme fielen die Ölpreise wieder einmal drastisch. Der wackelige wirtschaftliche Boden, auf dem Chávez seine sozialen Programme gefahren hatte, brach nun endgültig zusammen. 

Die Lösung? Geld drucken! 

Vermutlich hat die Regierung erwartet, dass sich die Ölpreise schnell erholen, wie sie es schon öfter getan haben. Aber das war nicht der Fall. Stattdessen wurde die venezolanische Wirtschaft durch Hyperinflation zerstört. Die Inflation betrug zum Teil zwei Millionen Prozent. Stell dir vor, dass du 2 Millionen Euro auf dem Konto hast. Und die nach der Inflation nur noch 1€ wert sind. Für mich eigentlich unvorstellbar …

Hier noch ein spannendes Video über die Wirtschaft von Venezuela:

Irgendwie, selber verstehe ich es auch noch nicht, hat es Maduro geschafft an der Macht zu bleiben. Und seine Macht sogar massiv auszubauen. Gegen 2017 haben er und seine Regierung es geschafft die Opposition politisch mehr oder weniger vollkommen stillzulegen und den entsprechenden Regierungskörper zu ersetzen. Die Wahlen dazu wurden von westlichen Medien als einer der größten und offensichtlichsten Wahlbetruge aller Zeiten betrachtet.

Trotz Opposition, Protesten, internationalen Sanktionen … Maduro ist und bleibt an der Macht. Und es gibt keine Anzeichen, dass sich daran etwas ändern wird.

Wertschätzung für Deutschland

Ich bin einer der ersten, der sich über ganz vieles in meiner Heimat aufregen kann. Wie steif und bürokratisch hier doch alles zu geht! Wie sehr uns unsere Medien und Politiker spalten! Wieviel verdammte Steuern wir zahlen müssen … und was dann mit diesen Steuern gemacht wird!

Ja, das kann ich mich herrlich drüber aufregen …

Aber Sorge, dass ich von der Polizei oder der Bundeswehr willkürlich aus dem Straßenverkehr gezogen werde, hatte ich noch nie. Oder das mir die Regierung mein Unternehmen wegnimmt. Oder, dass ich einen 4-5 Stunden in der Schlange stehen muss, um Sprit an der Tankstelle zu bekommen. Oder, dass mein Geld morgen nichts mehr wert ist. Oder, dass ich hungern muss. Oder überfallen werde. 

Oder oder oder oder …

Die vielen Probleme, die wir in Deutschland NICHT haben, sind eigentlich einen Jubelschrei wert!

Und wieso nochmal sind wir so unzufrieden?

Danke für’s Lesen!

Jakob

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Hinter den Kulissen: Was macht ein Sichtbär eigentlich, wenn er nicht arbeitet?

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Ein Liebesbrief an das Unternehmertum